20 Jahre Torfkurier, der Film






Realismus

Wie müde kann man im Herzen sein?

Text: Götz Paschen

Realismus wird oft verwechselt mit Ideen- und Perspektivlosigkeit: Die Zukunft ist nicht die logische Verlängerung der Gegenwart. Seit Corona verstehen das die Menschen. Unsere Zukunftserwartungen wurden irritiert. Realismus beinhaltet heute variablere Zukunftsaussichten. Vor mir steht auf einem Fest – zu einer Zeit, als es noch Feste gab – ein junger Mann mit Baby vor den Bauch gebunden und seiner Familie. Wir besprechen mögliche Zukunftsperspektiven. Ich vertrete ‚unrealistisch‘ positive Szenarien. Er formuliert deren Unmöglichkeit und verlängert die Gegenwart schlicht in die Zukunft. Er ist seelisch alt. Was malt der dem Kind in zwei Jahren auf sein Bild? Autobahnen, Einkaufzentren, Krieg?

Was ist Alter?
Physikalisch ein Zeitstrahl mit zwei Kalendermarkierungen. Biologisch das Ergebnis des Lebensverbrauchs eines Organimus. Seelisch der Erstarrungszustand der inneren Lebendigkeit. In unserer Festsituation steht vor mir ein junger alter Mann. Wer hat seine Phantasie amputiert? Wieso nutzt er nicht die Chance eines Improvisationstheaterkurses. – Und Sie denken: ‚Ja, wenn sowas mal wieder stattfindet …‘ Völlig abgeklärt. Gratuliere: Sie haben Recht. Corona regiert seit Wochen. Wenn ich das unverändert in die Zukunft weiterdenke, wird es auch dann Improvisationstheaterkurse nicht geben. – Wenn Sie so denken, können Sie sich gleich neben den jungen alten Mann stellen. Gründen Sie gemeinsam den Chor der Realisten und singen Sie ihr trübes Liedchen.

Sexy
Schlank, groß, hübsch, Umgangsformen. Den hätte ich mir angeguckt als junge Frau. Aber witzig ist der nicht. Der Vorteil der Innenalten ist, dass sie außen blenden können und dürfen. Fassade als Chance. Aber seelisch lebensmüde auf eine ungefährliche Art. Die gähnen innen permanent, während sie realistisch ihr Leben leben. Was haben Sie von seinem hübschen Gesicht, wenn keine Musik drin ist? Wenn im Bett Routinen abgearbeitet werden: Bürgerlich lahmarschige Erotik. Oder stammhirndominierte Zehnminutengier. Nichts Fröhliches, kein Zwinkern, keine leidenschaftliche Geilheit, die aus einem grundsätzlich quietschvergnügten Leben entspringt.

Beschränkt
Deutungshoheit als Machtfrage. Millionen Menschen müssen beim Einkaufen in Deutschland Masken tragen. Hätten Sie mir das im Oktober geglaubt? Jetzt ist es Realität. Und vielleicht ist der Spuk im September schon wieder vorbei. – ‚September‘ habe ich geschrieben und Ihren Widerspruch aktiviert. Es ist eine Übung, sich für gute Perspektiven zu öffnen. Machen Sie sich einmal locker. Seien Sie endlich einmal ‚realistisch‘! Oder muss ich sagen ‚realistisch zwei‘. Wir haben stets die Wahl: Drama oder Komödie? Ich wähle verstärkt das Konzept Komödie. Warum? Weil es sich im Vorfeld besser anfühlt. Weil es genauso realistisch ist wie Drama. Und weil ich mich immer noch wappnen kann, gegen schlimme Folgen, wenn das Drama unausweichlich ist. Ist es meistens aber nicht. Die Dialektik lässt gute Lösungen oberhalb der konträren Möglichkeiten zu.

Oktober
Wir stehen also im Oktober auf dem Fest und unterhalten uns über die verschiedenen Verkehrsaufkommen in der Zukunft. Ich äußere meine Erwartung, dass wir den Flugverkehr drastisch reduzieren werden. Mein Jungalter moniert im Oktober noch, dass der Flugverkehr jährlich relevante Zuwachszahlen verzeichnet. (Abends singt er seinem Baby am Bett immer das Liedchen von der Überschwemmung Niedersachsens.) Und damals – das ist ja nun mal gerade ein halbes Jahr her – hatte er Recht. Aber heute habe ich Recht. Fast keine Sau fliegt mehr. Die Lufthansaaktie ist abgestürzt, bei Airbus werden Produktionen stillgelegt ... Leute, ich hätte nie gedacht, dass das so schnell geht. Und Sie glauben, die Fliegerei kommt im vollem und wachsendem Umfang wieder? Ich nicht. – Wenn ich so einen Laden wie Airbus hätte, würde ich jetzt eine Produktionslinie für Elektrolasträder im Leichtbau aus dem Boden stampfen. Unverzüglich! Zur Sicherung der Arbeitsplätze und Zukunftsfähigkeit des Unternehmens. Tchibo verkauft auch Handtücher. Das passt nicht zu einem Kaffeeröster, ist aber Realität.

Torftipp: 1) Werden wir doch endlich realistisch, realistisch zwei! 2) Straßenkreide.