Januar
Physiotherapeutin
Helfen können: Arbeit mit Menschen.
Text / Fotos: Götz Paschen
„Man
wird immer als Masseur abgestempelt, ist man aber nicht.“ Die staatlich
anerkannte Physiotherapeutin Jana Moll (25) arbeitet Vollzeit in der
Krankengymnastik Praxis Reincke in Oyten. Beruf und Ausbildung haben
medizinischen Charakter. „Büromenschen, die am PC arbeiten, klagen oft
über Schulter- und Nackenbeschwerden mit Verspannungen und Schmerzen.“
Einseitige Belastung ohne Ausgleichssport oder -gymnastik führt zu
verspannten Muskeln und festem Gewebe. Die erste Behandlung besteht aus
Befund, Gesamtschau und kompletter Anamnese. „Wo kommt der Schmerz her?
Angucken, anfassen, dann anfangen mit Lockerung der Muskeln,
Mobilisierung der Wirbelsäule und Muskelaufbau.“ Es ist eine Mischung
aus aktiver Krankengymnastik und Massage. „Aber mehr auf der Bank, als
aktive Behandlung.“ Dabei gilt bei der Physiotherapie das gleiche wie
beim Flötenunterricht. Wer zu Hause nicht übt, kommt nur langsam weiter.
Ein erschwingliches Übungsmittel ist ein Thera-Band. Das Gummiband ist
zweieinhalb Meter lang und hier aus dunkelgrünem Latex. Moll zieht es
durch die Sprossenwand im Behandlungsraum, stellt sich seitlich zur Wand
und kräftigt durch einarmigen Zug die Schulter. Oder sie stellt sich
mit dem Blick zur Wand, nimmt beide Enden in je eine Hand und zieht sie
stramm hinter das Gesäß. Locker lassen, stramm ziehen …, Fotos Seite 6.
Der Oberkörper richtet sich dabei aus dem Rundrücken auf. „Der typische
Rundrücken entsteht durch zu schwache Rückenmuskulatur. Die Muskulatur
ist vorhanden, aber wenig ausgebildet. Eine klassische Muskeldisbalance:
Vorne ist die Muskulatur besser gestärkt als im Rücken.“ Ein Rundrücken
kann auch durch Fehlhaltungen entstehen: „Die Handygeneration hat immer
den Nacken krumm und guckt runter.“ Hier fehlen der aufrechte Gang und
der gesunde Weitblick.
16.000 Euro SchulgeldNach
dem Abitur an der Berufsschule BBS Rotenburg mit Schwerpunkt
Sozialpädagogik – „Menschen war schon immer dabei“ – hat Moll sich für
Physiotherapie entschieden. Sie hat am Diako-Blipht (Bremer Lehrinstitut
für Physiotherapie) die schulische Ausbildung von 2015 bis 2018
absolviert. Dort gab es ein Vierjahreskonzept mit vorherigem
Jahrespraktikum. In diesem Jahr erhielt sie nur einen sparsamen Lohn,
dafür aber dann drei Jahre 75 % Schulgeldnachlass vom Träger. „Zu meiner
Zeit waren es monatlich 450 Euro Schulgeld. Ich habe wegen des
Jahrespraktikums nur 115 Euro gezahlt.“ Zum Institut gehörten Schule,
Krankengymnastikpraxis und Fitnessstudio. „Die Therapeuten konnten mit
den Patienten auch direkt hoch ins Studio gehen.“ In dem Praktikumsjahr
hat Moll auch schon Rezepte, Abrechnung und Bürosoftware kennen gelernt.
„Das kriegt man in der schulischen Ausbildung nicht mit.“ Wer damals 3
Jahre x 12 Monate x 450 Euro Schulgeld zahlte, war am Ende bei rund
16.000 Euro Gesamtkosten. „Das ist viel für einen sozialen Beruf. Viele
haben erst etwas anderes gelernt und auf die Ausbildung gespart oder sie
über BAföG oder die Eltern finanziert.“ Seit 2019 kostet die Ausbildung
kein Schulgeld mehr und Auszubildende erhalten abhängig vom Träger der
Ausbildung eine gute Ausbildungsvergütung, oder keine. Wer keine
Vergütung erhält, kann wiederum BAföG beantragen. Bei Moll kam nach dem
Jahrespraktikum ein ¾ Jahr Schule und dann immer im Achtwochenrhytmus
der Wechsel zwischen Praktikum und Blockunterricht. „Ich wollte das
blockweise und nicht nachmittags meine Klausuren schreiben. Und ich
wollte wissen, wie sieht der Arbeitstag über acht Stunden aus.“ Andere
Institute machen vormittags die Praxis und nachmittags die Schule. „Da
kann man nachmittags seine Fragen direkt klären.“ Auch nicht schlecht.
Wieso Physiotherapie?„Ich
habe schon beim Handball mit Physiotherapie zu tun gehabt, bei einem
Bänderriss im Fuß. – Ich fand immer spannend, durch die Arbeit mit dem
Körper einem Menschen zu helfen, wieder fit zu werden.“ Früher hieß der
Physiotherapeut Krankengymnast. Heute ist auch ein Bachelor möglich
durch Verlängerung der Ausbildung. „Ich habe alles mitgekriegt. Ein
Studium ist mir zu theoretisch für den Arbeitsalltag.“ Wer seine
Wartesemester für das Medizinstudium voll kriegen muss, hat mit
Physiotherapie eine gute Grundlage für das Studium. Die Schulen haben
ihre Kooperationspartner für das echte Leben. „Man wandert als Schüler
durch die Einrichtungen von Klinik, zu Praxis, zu Reha …“ Im Unterricht
zieht man ein Kärtchen mit einem Krankheitsbild und behandelt
entsprechend. „Wir haben uns gegenseitig ohne Ende massiert.“ Die
Übungen in der Schule finden immer am gesunden Mitschüler statt. „Beim
Patienten hatte ich dann zum ersten Mal einen gelähmten Arm in derselben
Situation in der Hand. Man kann es niemals so nachstellen, wie es ist.
Am gesunden Mitschüler fühlt man nichts Entsprechendes.“
WeiterbildungDer
Beruf bietet viele Weiterbildungsmöglichkeiten von kurz bis
umfangreich: Sportphysio, Rückenschule ... „Ich habe in der Ausbildung
an einem Tapingkurs über zwei Tage teilgenommen. Und ich tape viel.“
Tapen ist eine Art Klebebandtherapie. Was hat sie noch vor? „Ich
schwärme von Osteopathie als Zusatzausbildung.“ Die schulische
Ausbildung ist das Grundgerüst. Die Fortbildungen sind oft teuer. Ein
Modell ist, dass der Arbeitgeber bezahlt und der Mitarbeiter sich
gleichzeitig verpflichtet, nach der Fortbildung noch für mindestens den
Zeitraum X in der Praxis zu bleiben. – Und eine eigene Praxis? „Ich bin
froh, wenn ich hier rausgehen kann und Feierabend habe. Den Menschen zu
helfen, macht mir Spaß, aber nicht der Aufwand mit Ärzten, Krankenkassen
und Verwaltung.“
CoronaDie
meisten Krankengeschichten in Molls Arbeitsalltag sind orthopädische.
Oder es kommen Patienten zur Massage als Selbstzahler. „Aber während
Corona geht das nicht. In der Coronazeit soll eine medizinisch
Notwendigkeit für die Behandlung bestehen. Wenn das Rezept ausläuft, ist
der Besuch vorbei.“ Wer vor Corona noch auf eigene Kosten verlängert
hat, weil es ihm gut tat, kann das heute aufgrund der Verordnung nicht
mehr. Die Vorgabe ist logisch, aber dient sie der Gesundheit? – „Die,
die Angst hatten, sind Anfang des Jahres nicht gekommen. Wir hatten erst
auch ein mulmiges Gefühl. Aber Homeoffice gibt es bei Physiotherapeuten
nicht.“ Also täglich das Übliche: Maskenpflicht, Hände waschen,
desinfizieren … Viele Behandlungen in Bauchlage, in Rückenlage alle
Behandlungen mit FFP2-Masken, die mit der Schnabelform. „Wir waren und
sind systemrelevant. Finanziell hatten wir fast keine Einbußen: Zwei
Monate war anfangs Kurzarbeit, weil viele zu Hause geblieben sind. Jetzt
läuft es wieder normal.“
SchulinhalteIn der
schulischen Ausbildung ging es um Orthopädie und Chirurgie, also
Knochen, Muskeln und Gelenke. Ein Thema war die Pädiatrie, die
Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Angehende Physiotherapeuten
beschäftigen sich auch mit Gynäkologie: „Blasengeschichten, Beckenboden,
Behandlung von Alten, Schwangeren, frisch Entbundenen, oder nach einer
Brust-OP. Die Generation um die 70 hat ihre Schwangerschaften oft ohne
Rückbildungskurse erledigt.“ In der Neurologie begegnen einem
Schlaganfallpatienten, deren schwache Hälfte man gemeinsam wieder
aufbauen muss. „In der Akut-Reha machen die stationär in drei Wochen
krasse Fortschritte. Danach sind sie ein- bis zweimal die Woche zur
Wiederherstellung der Beweglichkeit hier.“ In der Schule ging es auch um
innere Medizin und Physiologie. Das wären Patienten nach Herz-OPs. Auch
diese Behandlungen laufen mehr in der Reha als in der ambulanten
Praxis. Deswegen sind Physiotherapeuten auch häufig in Kliniken
angestellt, um dort die Kranken aufzupäppeln.
EmpathieRückenschule,
Hausbesuche, Sportphysio, Rückbildungsgymnastik, Lymphdrainage … das
klingt jetzt alles sehr konkret und körperlich. Aber: „Man muss
körperlich behandeln, aber auch empathisch und seelisch präsent sein.“
Im Regelfall siezt Moll die Patienten mit einzelnen Ausnahmen. „Man ist
immer nah am Patienten, aber die professionelle Distanz muss trotzdem
bleiben.“ Viele tauen im Laufe der Behandlung mit den sechs Terminen
auf. Zuhören und Tipps geben gehört zum Beruf. Traurige Geschichten muss
man in der Praxis lassen. „Den einen drückt es auch auf der Seele.
Andere haben einfach nur Schmerzen. Aber körperliches Leiden kommt auch
nicht von irgendwo.“ Das Gros der Patienten ist älter, hauptsächlich ab
60. „Aber wir haben auch Jüngere: Im Berufsleben entstehen die
Rückenbeschwerden. Und die meisten Bandscheibenvorfälle passieren
beispielsweise zwischen 25 und 50.“
TaktungDiese
Praxis hat von 7 bis 19 Uhr geöffnet und für die Mitarbeiter
verschiedene Schichten. Moll hat eine 40-Stunden-Woche: Zwei Tage spät
bis 19 Uhr und drei Tage früh 7 bis 15.30 Uhr. Ihre Termine findet sie
in dem Wochenplan in ihrer Spalte. „Normal ist der Plan voll. Wenn einer
absagt, kann man einen anrufen und vorholen.“ Es gibt eine Reserve:
alle die noch bräuchten, für die aber nichts mehr frei war. Fällt einer
spontan aus, heißt das eine halbe Stunde rumsitzen? „Ich kann
desinfizieren, der Bürokraft Sachen abnehmen, Berichte für die Ärzte
schreiben …“ Warum ist sie hier und nicht in einer Klinik? „Weil es nah
ist. Und wir arbeiten im 30- und nicht im 20-Minutentakt. Mir gefallen
auch das Team und die Räumlichkeiten.“ 20 Minuten ist die
Kassenregelzeit für Krankengymnastik. Wer drei davon in der Stunde
ansetzt, hat eine sehr straffe Taktung inklusive An- und Ausziehen. Bei
30 Minuten-Taktung ist mehr Luft. „Man behandelt auch mal drei Minuten
länger, ohne dass der nächste die drei Minuten abgezogen kriegt. Das ist
schon humaner und eigentlich Luxus.“ In Coronazeiten kann man mit
kleiner Zeitreserve auch besser Stoßlüften und die Bank desinfizieren.
Zu dem Besuch gehören Termine klären, Rezepte eintragen, gegebenenfalls
den Eigenanteil zahlen. „Ohne Rezeptionskraft geht das nicht in 20
Minuten.“
Gefragte LeuteJana Moll ist eine fröhliche
junge Frau mit frischem Schwung und positiver Ausstrahlung. Nach ihrem
Klinikpraktikum wurde ihr gesagt, dass sie sich später auch bewerben
könne. „Die Kollegen haben mich nach der Ausbildung angeschrieben:
‚Melde dich mal bei unserer Chefin.‘ Aber ich wollte nicht ins
Krankenhaus, weil ich Handball spiele und meine Wochenenden für die
Spiele frei halten wollte.“
PerspektiveSeit
der gestrichenen Schulkosten sei Physio im Kommen. „Viele konnten es
sich bisher nicht leisten. Die Ausbildung ist jetzt wieder interessanter
geworden.“ Gesund sollte man sein, Sportler nicht unbedingt. Es ist ein
körperorientierter Beruf für Leute, die Lust auf Menschen und helfen
haben. Von dem Gehalt kann man keinen Palast bauen. Dafür ist die
Vereinbarkeit mit einer Familie möglich. „Halbtags geht bei meinen
Kolleginnen mit Kindern. Entweder Teilzeit vormittags oder zwei volle
Tage, und die Kinder sind bei Oma und Opa.“ Abends wechselt sie die
Arbeitsjogginghose gegen die private. Dann ist Feierabend,
Verwandtschaft hin oder her. „Ich massiere wenig zu Hause, nur wenn es
sein muss.“ Tagsüber ist schon gut was los. „Man muss sich alle halbe
Stunde auf einen neuen Menschen einstellen.“ Mit Gespräch und allem. Das
Autoradio lässt Moll auf dem Heimweg aus. „Ich hatte den ganzen Tag
Beschallung. Tagsüber stört es mich nicht, aber abends sitze ich gerne
ohne Fernsehen oder Radio.“
Torftipp: Machen. „Es gibt zu wenig Physiotherapeuten. Überall wird gesucht.“ Auch Molls Praxis sucht noch Kollegen.