November
Mitbewohner für die Hausgemeinschaft
Ein verbindlicher Rahmen mit ausgewählten Teilnehmern.
Text / Fotos: Götz Paschen
Zum
LebensArt Rotenburg e. V. gehören 14 Bewohner/innen von 1 bis 72
Jahren, 3 Hunde, 6 Heidschnucken, 6 Hühner und 7 Bienenstöcke. Schräg
hinter der Score-Tankstelle an der Rotenburger Mühlenstraße bewohnen
acht Parteien Wohnungen von 40 bis 134 Quadratmetern. Auf der
wöchentlichen Versammlung montagabends wird geregelt, was zu klären ist.
„Meistens ist das ganz nett, gesellig und lecker“, erklärt Sabine
Oldenbüttel (60), eine Bewohnerin. Die obligatorische Vereinsversammlung
findet einmal jährlich statt. Der Rahmen steht und die Wohnungen sind
belegt. Das war 2017 noch ganz anders.
Fünf Jahre2013
startete der Gründungsprozess mit Bauplatz- oder Gebäudesuche. 2016
erfolgte der Grundstückskauf der ehemaligen Schlachterei Stelling durch
die LebensArt GbR (Gesellschaft bürgerlichen Rechts). Das sind die
Ehepaare Schwarze-Bruns und Zimmermann-Stieg als Eigentümer des Hauses,
die heute auch hier wohnen. 2017 wurde der Verein LebensArt Rotenburg e.
V. gegründet, der von der GbR die Wohnungen mietet und an die Bewohner
weitervermietet. Axel Oldenbüttel (63): „Anfangs waren es zu wenig Leute
für die Vereinsgründung. Es sind noch Kinder von den Eigentümern
eingesprungen als Fördermitglieder. Die haben allerdings kein Stimmrecht
bei Hausgeschichten.“ Dann folgten Abriss, Neubau und Richtfest. Der
Einzug im Mai 2018 war eine Punktlandung. Da es hier nicht um irgendein
beliebiges Mietverhältnis für ein paar Jahre ging, hat sich die
wachsende Gruppe die künftigen Hausgenossen in Ruhe angeguckt.
Gemeinsamer Nenner„Wir
wollen in Gemeinschaft leben. Das ist eigentlich das Wichtigste.
Gemeinschaft erleben bis ins hohe Alter.“ So bringt Christoph Wüstefeld
(58), erster Vorsitzender des Vereins, es auf den Punkt. Er beschreibt
den Versuch einer guten Verständigung und die klassische
Hausgemeinschaftstugend gegenseitiger Unterstützung. Nachhaltigkeit
spielt auch eine Rolle. „Bei acht Parteien brauchen wir keine acht
Waschmaschinen, teilen Autos …“ Die Teilkultur geht weiter bei
Rasenmäher, Kühltruhen, Werkzeug und einer gemeinsamen Bibliothek.
Sabine: „Ökologie ist ein Punkt, der hier auch gelebt wird. Das fängt
beim Waschpulver im Keller an und hört bei den Solarzellen auf dem Dach
auf. Weniger ist mehr. Wir leben naturbezogen.“ Die Bewohner teilen sich
ein Gästezimmer und haben ein gemeinschaftliches Atrium mit
Gemeinschaftsküche. Christoph: „Wir haben zusammengeschmissen, als wir
zusammen gezogen sind. Ich habe meine Waschmaschine verkauft, als ich
eingezogen bin.“ Wichtig sind auch die gemeinsamen Veranstaltungen:
Flohmarkt, Konzert, Theater, Open-Air-Kino … Die fallen Corona-bedingt
aktuell aus. Dabei geht es auch darum, Leute ins Haus zu locken und das
Konzept zu zeigen: ‚Guckt mal, wie nett wir es haben.‘ Sabine: „Ich
glaube, das wird immer aktueller, was wir hier leben. Gemeinschaft ist
flexibler. Die Alten bleiben fit, und die Jungen profitieren von den
Alten.“ Babysitten, Hunde sitten ... „Unsere Laika fährt so ungerne
Auto. Da ist ja immer jemand, der dann aufpasst.“ Und Musikkurse, die
Bandprobe mit Ukulele und Gebärdensprachkurse. Hier geht normalerweise
was. Den Unterschied der Hausgemeinschaft zur Wohngemeinschaft
beschreibt Miteigentümerin und Bewohnerin Astrid Schwarze-Bruns so:
„Jeder hat bei uns eine abgeschlossene Wohnung. Das ist schon der
Unterschied: Keiner blockiert dir das Bad oder die Küche. Die
Gemeinschaft ist Bonuszone und kein Muss.“
BewohnerauswahlDer
Verein hat seine Wohnungsangebote über Wohnprojektportale online und
über Handzettel vor Ort verbreitet und die Bewohner gemeinsam
ausgesucht. Christoph: „Da legen wir auf verschiedene Sachen wert: Dass
Leute Interesse an Gemeinschaft haben. Die sollen mit Nachhaltigkeit und
gegenseitiger Unterstützung was anfangen können. Und dass wir
Ressourcen teilen. Das ist auch nicht so selbstverständlich.“ Bei den
Treffen zum Kennenlernen wurden die Interessen abgeglichen. ‚Den Carport
da, den brauche ich für meinen Mercedes.‘ ‚Ne, da stehen schon die
Fahrräder drin.‘ – Der wohnt heute nicht hier. Als sie noch aktiv
gesucht haben, hatten sie auf der Homepage einen Fragebogen. Da konnte
man als Interessent gucken, ob man über einzelne Fragen stolpert. Es
ging auch darum, dass Menschen inklusiv denken: Behindertengerechtes
Wohnen ist eine bauliche und soziale Frage und hier eine
Selbstverständlichkeit. Christoph: „Wenn wir was frei hätten, wäre
dieser Fragebogen ein erster Schritt. Und als zweiter Schritt dann das
persönliche Kennenlernen.“ Eineinhalb Jahre kamen Parteien anspaziert
und haben an Treffen teilgenommen. Sabine: „Die Chemie muss stimmen. Bei
manchen merkt man schon vorher, dass das keine gute Voraussetzung ist.“
Das Haus war noch gar nicht fertig, da haben sie schon im Garten
angefangen zu wühlen. Interessenten konnten am Wochenende mitmachen.
Wenn man gemeinsam am Schwimmteich geschaufelt oder an der Terrasse
gebaut hat, weiß man, ob es zusammen läuft.
Casting?Kennen
die Rotenburger hier die WG-Castings der Jugend in den
Studentenstädten? Wie dar das bei ihnen früher im Studium? Astrid:
„Schwierig ist es, neu in einer Stadt zu sein. Da musst du einen Start
finden. Aber wenn du erstmal deine WG zusammen hast, waren die
Nachrücker einfach. Man hat mit Leuten gesprochen, die man kannte. Das
ging einfach so über den Bekanntenkreis. Man hat von jemandem gehört,
und es lief über Mundpropaganda. Von WG-Castings haben mir meine Kinder
erzählt. Die mussten sich auch vorstellen. Dass es heute Castings gibt,
liegt am Fernsehen.“ Ihre Kinder fanden es spannend wie es hier in der
Mühlenstraße war. „Das war eine ganz andere Kiste.“
JugendJeweils
sieben bis acht ‚feste Bewohner‘ haben sich in der Bauphase die Neuen
angeguckt. Christoph: „Du kriegst ja ganz schnell ein Gefühl, ob etwas
nicht passt. Das ist wichtiger als der Fragebogen. Sandra und Milan
kamen extra mit dem Zug aus Bremen mit dem kleinen Emil. Bei denen haben
wir alle gehofft, dass die Bock haben, zu uns zu kommen.“ Weil die den
Altersschnitt nach unten reißen. Im Projekt waren bisher alle 50 plus.
„Wir wollten ein Mehrgenerationenwohnen haben. Du denkst ja auch: wie
ist das in zehn Jahren? Wir wollen dann den Emil zum Edeka schicken, um
für uns die Kiste Bier zu holen.“ Und lacht. Heute hat die junge Familie
mit den zwei Kindern (4 und 1 Jahr/e) einen Strauß an Babysittern zur
Auswahl. Die Hochzeitsfeier fand auf dem Gelände statt.
Gemeinschaftliches Kochen, Backen und Grillen für die Hochzeit hatten
sich die zwei von den Mitbewohnern gewünscht. Astrid Schwarze-Bruns:
„Das Essen war gesichert.“ Schon mal nicht schlecht. WG statt
Partyservice. Da fühlt man sich getragen.
AuswahlMeistens
wussten sie sehr schnell, was geht und was nicht. Die große Wohnung war
bei jungen Familien auch eine Kostenfrage. Eine Familie wollte sie
gerne haben und konnte sich die nicht leisten. „Die hätten wir nett
gefunden.“ Für die andere Familie war sie zu klein, weil sie noch ein
drittes Kind geplant hatten. Ein Bewerber wollte die große Wohnung mit
120 Quadratmetern ganz alleine bewohnen, aber das passte den anderen
nicht. Christoph: „Zum Abschied hieß es immer: Wir schlafen mal drüber,
und wir sagen dir Bescheid.“ Drüber schlafen ist bei relevanten
Entscheidungen ja oft hilfreich. Was auch immer da im Schlaf passiert,
morgens ist einem vieles klarer. Astrid: „Bei der nächsten Versammlung
haben wir dann abgestimmt.“ Es ging viel um Gefühl und Sympathie. Eine
wollte zwar nur eine kleine Wohnung, dafür aber den halben Keller und
die ganze Bibliothek. Ansprüche und Erwartungen gingen öfter
auseinander. Am nächsten Tag gab es die Absage. Welche Kriterien waren
ausschlaggebend? Christoph: „Es gab keine fixen Kriterien. Es ging sehr
nach Bauchgefühlt.“ Hier sucht also ein Verein, zu dem auch die
Eigentümer gehören, die Mieter gemeinsam aus. „Die Eigentümer hatten
kein Vetorecht. Das steht sinngemäß in der Satzung. Die dürfen nicht
sagen ‚Der kommt uns nicht ins Haus.‘“ Das regelt der Vertrag zwischen
Verein und GbR.
BauchgefühlChristoph zu den
Auswahlrunden: „Wir haben ein bisschen von uns erzählt und über die
Eckdaten berichtet. Und gefragt: ‚Wie ist das bei euch? Wollt ihr das
mittragen?‘“ Sabine erinnert sich, dass sie sich äußern musste, warum
sie in die Hausgemeinschaft will. Astrid beschreibt die
Entscheidungsfindung als 90 % Bauchgefühl. Passt die Grundeinstellung,
war die entscheidende Frage. Sabine: „Da sind wir auch ziemlich gut mit
gefahren. – Astrid hat immer schön gekocht, und meist haben wir schön
gegessen.“ Astrid erinnert sich noch genau an diese Phase des Projektes:
„Ein spontanes Nein beim ersten Eindruck hat sich nachher auch
bestätigt. Man lernt eine Menge Leute kennen, das ist schon spannend.
Einer war echt unmöglich. Dann gibt es eine nette Absage.“ Bei einem hat
sie es schriftlich gemacht, sonst immer mündlich, nett und freundlich.
„Ich habe dann schon gesagt, wie es war: ‚Wir hatten den Eindruck, dass
es nicht so passt, von beiden Seiten.‘ Ich habe das in unserem Namen
formuliert. Einmal tat es mir auch wirklich leid.“ Gemeinsam hatten sie
alle schnell ein Gefühl, ob es passt oder nicht. Christoph: „Es hatte
keinen Prüfungscharakter. Und wenn, dann ist die Prüfung gegenseitig:
‚Mal gucken, was das hier für ein Haufen ist.‘“ Es gab keine heißen
Diskussionen um die Besetzung. Die Entscheidungen waren einstimmig. Hier
galt das Konsensprinzip. Sie sind hier zwar keine homogene Gruppe,
hatten aber bei der Auswahl die gleiche Meinung.
Objektive KriterienDie
Planungsgruppe hatte als Auswahlkriterien neben dem Wunsch nach
Gemeinschaft den Umweltaspekt, den Kulturaspekt und das Ziel der
Altersmischung, neben weiteren. Liquidität war eine Notwendigkeit, aber
nicht in der Form, dass Gehaltsbescheinigungen vorgelegt werden mussten.
Die Muskelprobe musste keiner bestehen. Bei den Testgartennachmittagen
ging es eher um feine Schwingungen und nicht um Kubikmeter. ‚Wer im
Garten ist, ist noch nicht im Haus.‘ Christoph: „Im Garten war nur die
engere Wahl mit beiderseitigem Interesse. Zusammensitzen und quatschen,
aber auch zusammen was machen.“ Die Mietverträge sind zuerst auf fünf
Jahre befristet. Eine lange Probephase. Astrid erklärt, es sei auch eine
Finanzfrage. „Dann kann man nochmal neu gucken, wie passt es richtig?
Einen Schnitt machen und überlegen und gegebenenfalls die Verträge
ändern. Das hat sich bisher bewährt.“
ErsatzgroßelternHören
wir uns zum Schluss die andere Generation im Haus an. Milan Kelch (32)
wohnt hier mit seiner Familie und zwar gerne: „Ich kannte die Castings
aus dem Studium. Das war hier angenehmer und informeller. Der Pluspunkt
der Gruppe war die Legokiste beim Vorstellungsabend. Wir hätten es noch
schön gefunden mit mehr jungen Familien. Wir sind jetzt die einzige
junge Familie. Aber hier laufen auch viele Bewohnerkinder und
Enkelkinder rum.“ Die Lage mit Naturanschluss und die Menge an Platz
gefallen ihm gut. Das ist ein Unterschied zu der Wohnsituation in
Bremen. „Wir hatten beim Gespräch schon ein gutes Gefühl. Wir haben über
das Geld nachgedacht. Weil du von der Miete auch einen Abtrag zahlen
kannst. Aber wir wollten in einer Gemeinschaft leben. Die Großeltern
sind im Sauerland und im Harz, und wir haben hier mehr Hilfe. Die
Ersatzgroßeltern sind ein Vorteil, und wir wohnen hier persönlicher als
in der Großstadt.“
Torftipp: Das Konzept kopieren und nachahmen – www.lebensart-rotenburg.de