März
Stadtradeln und VerkehrOder: Wem gehört die Straße?
Text / Fotos: Götz Paschen
2019
rissen in Rotenburg beim Stadtradeln 1.162 Radelnde in 83 Gruppen
241.960 Kilometer ab und sparten in drei Wochen 34 Tonnen CO2. „Wir
waren niedersachsenweit bei Städten bis 50.000 Einwohner auf Platz zwei.
Bei 23.000 Einwohnern in Rotenburg musst du erst einmal 1.200 Leute
mobilisieren.“ Manfred Petersen (68) aus Rotenburg ist erster
Vorsitzender vom Kreisverband des ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrrad
Club). In Rotenburg organisiert der Club die Eröffnungsfahrt und die
Schlussfahrt als Sternfahrt mit vier Gruppen. „Da fährt jeweils vorne
einer und hinten einer, plus Sicherungsleute …“ Und dazu noch weitere
Touren, wie die mit 134 Leuten nach Waffensen 2019. „Die Gaststätte
wusste nicht, wo sie so viel Torte herkriegen sollte.“ Nicht umsonst ist
der ADFC mit 24.200 Kilometern auf Platz eins der Rotenburger Liste,
hart verfolgt vom Gymnasium Rotenburg (23.222 Kilometer) auf Platz zwei.
Auf Platz 43 landeten ‚Die roten Socken‘ (1.137 Kilometer), zehn
SPD-Anhänger um Ingo Krampitz (52), Vorstand im Ortsverein. Was bringt
die Statistik? Krampitz: „Ein bisschen Wettbewerb muss sein. Das sitzt
im Menschen drin. Dann fährst du auch einmal eine Extrarunde.“ Die
Ergebnisse sind online sichtbar: Welche Gruppe führt? Wer hängt hinten?
Konkurrenz
Ulf
Timmann (52) ist Mitglied im VCD (Verkehrsclub Deutschland) in
Rotenburg. Er schätzt Aktionen wie das Stadtradeln. Ihm fehlt es aber an
politischem Profil: „Der Auto- und Fahrradverkehr haben beide
zugenommen. Der Verkehrsraum ist aber der gleiche geblieben. Die
Privilegierung vom Rad ist noch nicht im relevanten Umfang realisiert.
Die treibenden Kräfte sind fahrradaffine Bürgermeister und Stadträte.
Sonst sehe ich nur Worthülsen. Es sind immer noch die gleichen Leute im
Verkehrsministerium und keine Weichenstellungen erkennbar.“ Und zum
Thema Fahrradspuren in Städten. „Halbherzig gemacht: Die hören dann
irgendwo auf und werden nicht durchgezogen. Die Politik will keinem
wehtun und es allen recht machen. Aber wenn du einem etwas von dem
begrenzten Raum in der Stadt geben willst, musst du einem anderen etwas
wegnehmen.“
GruppenPetersen
misst seine Stadtradel-Kilometer mit dem Tacho. Und Krampitz? „Man hat
ja sein Smartphone und kann sich selbst tracken. Einmal zur Arbeit 6,5
Kilometer. Ich bin mit dem Rad genauso schnell im Gewerbegebiet
Hohenesch wie mit dem Auto: in 15 Minuten. Du kannst den Straßenverkehr
mit Rädern entlasten: 1,4 Tonnen benzinbefeuert oder 12 Kilo
muskelbetrieben. - Danach hier in der Stadt einkaufen oder am Wochenende
zum Bullensee. Dann schreibst du das auf.“ Petersen wünscht sich, dass
auch alle Schulkinder und Jugendlichen über drei Wochen ihre Kilometer
aufschreiben. „Dann würde man mal sehen, was die für einen Umweltbeitrag
leisten.“ Er war schon zweimal ‚Stadtradelstar‘. „Ich habe als
Stadtradelstar 1.250 und 1.400 runtergerappelt als frischer Rentner. Das
Stadtradeln bringt einen so richtig in Form. Und auch die Erkenntnis:
Du darfst kein Auto benutzen.“ Das gilt aber ausschließlich für die zwei
bis drei angemeldeten ‚Stadtradelstars‘, die dann ihren Autoschlüssel
abgeben. Petersen erinnert sich an Verwandtenbesuche in der Heide: 80
Kilometer bei Regen. „Da hat man hinterher schöne Eindrücke. Das
Stadtradeln soll Leute motivieren, das Auto öfter stehen zu lassen.“
Wandel einleitenWem
gehört die Stadt? Timmann: „Die Innenstadt ist für mich ÖPNV-, Fahrrad-
und Fußgängerland. Hier herrscht Flächenkonkurrenz: Spielstraße oder
Autostraße? Die Autos werden im Schnitt größer und brauchen mehr
Parkraum. Das ist der falsche Trend. Wenn man nicht politisch steuert,
macht der Mensch, was am bequemsten ist.“ Das flache Land ist dagegen
trotz Bürgerbus unterversorgt und abgehängt. „Im ländlichen Raum kommst
du mit den aktuellen Weichenstellungen ohne Auto nicht weiter.
Carsharing mit Nachbarn als Option ist ein schwieriges Unterfangen. Aber
es kommt gerade bei jungen Menschen gut an. Diese Angebote müssen
langfristig verlässlich und gut sein. Carsharing ist auch für die
Automobilindustrie interessant: Es ist eine Variante, noch Fahrzeuge
loszuwerden. E-Mobilität im Autobereich ist nicht die Lösung des
Problems. Den Energieträger zu wechseln, reicht nicht. Das E-Auto ist
eine Technikanpassung, aber kein strategischer Wandel.“
AnfangenPetersen:
„Wir organisieren als ADFC Freizeit und machen Verkehrspolitik.“
Vorträge über sicheres Radfahren für Senioren, ein Pedelec-Lehrgang
inklusive Vollbremsung bei 25 Stundenkilometern, Beratung und
Zertifizierung fahrradfreundlicher Betriebe: gute Abstellanlagen mit
Dach, jedem ein eigener Spind zum Kleiderwechsel … ein Antrag beim
Landkreis für einen Anschaffungszuschuss für Lastenräder aller Couleur:
500 bis 1.000 Euro und bei elektrischen mehr. Auch ohne Lastrad ist viel
möglich. „80 bis 85 % der Einkäufe mit dem Auto würden in den
Fahrradkorb passen.“ Krampitz kauft lieber öfter ein. Dann kriegt er den
Einkauf auch mit dem Rad transportiert. „Wir müssen nicht darüber
diskutieren, ob es Sinn macht, 600 Meter mit dem SUV zum Bäcker zu
fahren.“ Und zu den Staus im Rotenburger Berufsverkehr meint der
Fahrradpendler: „Was nutzt es, sich aufzuregen, wenn man Teil des
Problems ist. Du bist selber das Problem, wenn du im Stau steht.“
Es tut sich wasTimmann
beobachtet die Trendwende seit Jahren: Die Stückzahlen im
Fahrradfachhandel haben pro Jahr Zuwachs von 10 bis 15 %. Die Branche
hat ein Umsatzplus von 10 % pro Jahr. „Wo hast du das sonst im Handel?
Es geht sukzessive nach oben.“ Das E-Bike könne man aus dem klassischen
Fahrradladen nicht mehr wegdenken. Lastenräder sind ein Trend bei
Städtern, die aufs Land gezogen sind. „Lasträder als Nutzfahrzeuge mit
E. Ohne tut sich das keiner mehr an.“ Er erwähnt Autoverzicht,
Carsharing, mehr Taxi ... „Was unterlassen? Was optimieren? Und nicht
nur Kleinklein machen.“
Rote SockenWird
die SPD jetzt Umweltpartei? Krampitz: „Der SPD-Politiker Hermann Scheer
war der Solarpapst und hat auch Umweltpolitik gemacht.“ Er will den
Mobilitätswandel. „Aber du musst als Partei möglichst viele mitnehmen.
Eine 76-jährige Oma kannst du für zehn Kilometer nicht aufs Fahrrad
zwingen. Wir müssen für handfeste Alternativen Geld in die Hand nehmen,
um den ÖPNV im ländlichen Raum zu stärken. Wenn im Bus zwei bis drei
Leute sitzen, regt sich jeder auf. Im Auto sitzt aber auch immer nur
einer.“ Laut Timmann ist der Haupttrend im Fahrradhandel die
Substitution eines Fahrrades durch ein E-Rad. „Die E-Bikes sind alle in
Bewegung, aber die Fahrräder stehen oft über Jahre in der Garage.
E-Biker sind schneller und mehr unterwegs auf ihrem Rad.“ Im Ländlichen
sei Fahrradverkehr meist Freizeitverkehr und entsprechend ‚E‘ schon
Gruppenzwang. „Du hechelst sonst hinterher. Auch in der Partnerschaft.
Die Frauen kaufen sich das E-Bike. Dass sie mithält. Danach fährt die
Frau ihm ständig weg, und dann will er auch eins.“ Petersen hat bei
aller Ökologie auch seine Fahrer/innen im Auge: „Es wird immer
ausgerechnet, wie viele Tonnen CO2 wir sparen. Meine Hauptziele sind
Bewegung, Spaß und Gemeinschaft statt Vereinsamung. Die Mitfahrer fühlen
sich wohl. Das spricht sich rum. – Es ist schon ein toller Eindruck mit
130 Leuten unterwegs zu sein. Da guck du mal nach hinten …“
Torftipp:
Stadtradeln: 17.5. - 6.6.2020 in Rotenburg. Info: www.stadtradeln.de
oder Umweltbüro Rotenburg, Andrea Rieß, Rathaus, Zimmer 1.5, 0 42 61 -
71 104, andrea.riess@rotenburg-wuemme.de