Oktober
Geführte Erinnerungskultur
Geschichte greifbar machen.
Text: Götz Paschen, Fotos: Götz Paschen, Udo Fischer / TouROW und www.meike-goebel.de
Die
Gästeführerin Almuth Quehl (61) aus Kirchwalsede führt Gruppen zum
Thema regionale Sagen im Schein ihrer Laterne in Rotenburg, Visselhövede
und Scheeßel. „Ich habe in den drei Orten unterschiedliche Geschichten.
Meine Quellen sind antiquarische Bücher aus den 20er bis 50er Jahren.
Die besorge ich mir hier auf Flohmärkten und auch zum Teil im Internet.
Ich gucke auch immer noch. Und am Weicheler Damm ist die Außenstelle des
Kreisarchivs. Daneben habe ich auch ein paar alte Leute zu Geschichten
gefragt, die hier im Dorf kursierten.“ Quehl ist eine von drei
Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Gästeführungen im Landkreis
Rotenburg und zuständig für den Südkreis. Sie hat in Göttingen
Geschichte studiert. „Gästeführungen halten dich fit. Du bist mit
Menschen zusammen und unterwegs. Und du kannst kreativ sein.“
Laternenführung klingt erst einmal eher putzig, aber der Schein trügt.
HolocaustQuehl
führt auch durch die ‚Cohn-Scheune‘´, ein jüdisches Museum in
Rotenburg, das sich mit dem Schicksal der Familie Cohn beschäftigt. „Die
führe ich aus Überzeugung. Da bin ich im Verein, mache auch
Museumsdienst und finde das Gedenken ganz wichtig.“ Sigrid Peters, eine
Gästeführungskollegin und Michael Quelle hatten das Schicksal der
Familie und ihre Deportation ins Konzentrationslager erforscht. Es gab
widersprechende Behauptungen in Rotenburg. Andere meinten: ‚Die Cohns
sind irgendwie weggezogen.‘ „Der damalige Stadtarchivar hat die
Forschungen noch einmal nachvollzogen und kam auch zu dem Ergebnis, dass
die Cohns nach Auschwitz deportiert worden sind.“ Ein Verein hat die
Cohn-Scheune mit Unterstützung aus dem Rathaus wieder aufgebaut. Die
Stadt lieferte den Bauplatz und ist in der Diskussion „vor Meckerern
nicht eingeknickt. Die Eröffnungsresonanz war großartig und positiv. –
Ich interessiere mich nicht für Geschichte, weil es Vergangenheit ist,
sondern weil sie Auswirkungen in die Gegenwart hat.“
Martin AlexanderQuehl
erzählt mir auch einen Abriss der Geschichte des Juden Martin Alexander
aus Visselhövede. Der wurde 1872 zum ersten jüdischen Bürgermeister
gewählt. „Das passive Wahlrecht für Juden war sehr frisch. Alexander war
mit der Familie Cohn weitläufig verwandt.“ Die Juden hatten es auch
damals nicht leicht in Deutschland. „Sie waren rechtlich sehr stark
eingeschränkt. Ein Umzug war nur mit Schutzbrief möglich. Ansonsten
waren sie rechtlos. Der Schutzbrief wurde ordentlich bezahlt. Erwachsene
Kinder mussten wegziehen.“ Zusammen mit ihrer Kollegin Hanna Tamke
hatte Quehl 2018 zahlreiche Persönlichkeiten zum Weltgästeführertag nach
Visselhövede eingeladen. „Da kam auch Lizi Alexander-Christiansen, die
Urenkelin des Martin Alexander.“ Sie ist in Kolumbien aufgewachsen und
als Erwachsene der Liebe wegen wieder nach Deutschland gezogen in die
Region Celle. „Die Familie ist in den 1930er Jahren nach Kolumbien
ausgewandert. Die Urenkelin hat über ihre Jugend in Kolumbien berichtet.
Ihr Vater Robert Alexander hat ihr nie etwas über ihre jüdische
Herkunft erzählt. Sie hat es selber herausgekriegt. Ihr Vater hatte
Angst, dass sich der Antisemitismus in Kolumbien fortsetzt.“
VergnügenSo,
jetzt aber mal wieder leichte Kost! Quehl führt in Visselhövede in der
Rolle der Minna Dierks historisch in die Gründerzeit um 1900. In dieser
Rolle tritt sie als Handwerkerwitwe auf und trägt Schwarz. Ihre zweite
historische Führung in Tracht liefert sie in Rotenburg unter dem Namen
Christiane Carstens ab. Als Frau des Pastors berichtet Quehl über die
Zeit des Biedermeier um 1840. „Für die Verkleidung gehe ich überall zum
Trödler und auf Flohmärkte.“ Das Lorgnon (die Brille am Stil) hat sie
bei einem wilden Antiquitätenladen in Neuenkirchen erstanden. Ihr
Optiker hat ihr in das Gestell echte Lesegläser eingesetzt. „Bei der
Ausstattung will ich auch weitestgehend korrekt sein. Das macht doch
Spaß.“
Gründerzeit„Visselhövede
hat eine total spannende Geschichte. Es war Boomtown mit
Vollbeschäftigung um 1890: eine Zündholzfabrik, drei Honigfabriken unter
anderem die größte Deutschlands, die ‚Norddeutsche Honig- und
Wachswarenfabrik‘, vier Ziegeleien, eine Wagenfabrik … Es war führend
bei der Gründung von ländlichen Genossenschaften nach dem Modell
Raiffeisens mit einem regen Herrn Zollikofer und der Geflügelzucht- und
Eierverkaufsgenossenschaft, der Molkereigenossenschaft, dem
Rinderversicherungsverein …“ Wieso gerade Visselhövede? „Hier gab es
Unternehmertypen. Und Visselhövede hatte früh eine Bahnanbindung durch
die Amerikalinie. So konnten Rohstoffe geholt und Waren abtransportiert
werden.“ Visselhövede sei viel besser als sein Ruf, behauptet Quehl.
„Ich finde Visselhövede durchaus klasse. Zum Beispiel arbeiten die Stadt
und der Heimat- und Kulturverein gut zusammen und stellen was auf die
Beine.“
BiedermeierIn Rotenburg führt Quehl mit Haube
(korrekt Schute) und geht noch einmal 60 Jahre zurück in der Geschichte.
„Rotenburg hat nicht so eine industrielle Geschichte. Hier gab es das
Amtsgericht, das Verwaltungsgericht, den Amtmann …“ 1834 vernichtete ein
Stadtbrand viele Häuser. Die neuen Gebäude stammen aus der Zeit des
Wiederaufbaus. „Das hat das Stadtbild in Rotenburg für mich ausgemacht
und war Anlass für die Figur in dieser Zeit, die ich mir ausgesucht
habe.“ Der Lehrer Bernhard Haake hat in den 70ern Quellen recherchiert
und die Geschichten aufgeschrieben. „Daraus schöpfe ich. – Die
Superintendentur ist auch ein Biedermeierbau aus dem ausgehenden
Klassizismus.“ Alles beschaulich schön. Es geht Quehl darum, Geschichte
lebendig darzustellen. „Normale Stadtführungen ohne Verkleidung und nur
Zahlen sind doch langweilig.“
KirchwalsedeÜber
Stationen in Göttingen und Verden haben die Quehls vor 20 Jahren nach
Kirchwalsede rüber gemacht. „Besser kann man nicht wohnen. Morgens kommt
das Einhorn um die Ecke. Wenn man Natur mag, ist man hier richtig
aufgehoben.“ Lebensmittelladen, Kneipe, Gärtner, Friseur, Krippe,
Kindergarten, Grundschule … „Und das bei nur rund 1.200 Einwohnern.“
Dann erwähnt sie die „wunderschöne Kirche. Diese älteste Kirche im
Altkreis Rotenburg von 1150 ist in Grundzügen noch romanisch.“ Schöne
alte Deckenmalereien wurden erst vor ein paar Jahren freigelegt und sind
fragmentarisch erhalten. „Sie wurden beim Neuanstrich unter acht
anderen Schichten entdeckt, als die Placken runterkamen. Vom Motiv her
das Übliche: Ein segnender Jesus, der die Menschen in den Himmel
schickt. Oder in den Höllenschlund eines Untieres, das die Bösen
frisst.“ Aber nur wegen einer alten Kirche im Dorf muss man doch nicht
Gästeführerin werden. Wie kam es dazu? „Wir waren hierhergezogen, haben
umgebaut und vor uns hingewohnt.“ Da stolperte Quehl über den VHS-Kurs
‚Ausbildung zur Gästeführerin‘ unter der Leitung von Gina Lemme-Haase.
Die hat auch die AG Gästeführung im Landkreis ins Leben gerufen. Quehl
war ihr erster Ausbildungsdurchgang. Sie dachte sich: ‚Dann lernste was
über die Gegend, Ur- und Frühgeschichte, die Natur, neuere Geschichte,
Wirtschaft, Kirchengeschichte … ein breites Themenspektrum.‘ Es war
einerseits reines Interesse, aber andererseits waren es auch 120 Stunden
VHS in zwei Semestern: Einmal abends vier Stunden pro Woche und ein
Samstag pro Monat mit acht Stunden. „Dann hat man was gelernt und will
das auch erzählen.“ So kam sie zu ihrer Leidenschaft.
AusbildungNicht
jedes Semester bietet die VHS diesen Kurs an. „Aber alle paar Jahre
läuft das. Vor zwei Jahren haben Gina und ich ihn zusammen
durchgeführt.“ Aktuell sieht es so aus, als würde der Staffelstab
übergeben. Der letzte Kurs kostete 350 Euro plus 40 Euro Prüfungsgebühr.
Die Ausbildung findet auch im Wechsel in Zeven, Bremervörde oder
Rotenburg statt. Träger ist nicht immer die VHS, sondern auch die
ländliche Erwachsenenbildung (LEB). „Es ist Freizeit. Man muss Spaß dran
haben. Es ist aber machbar. – Man lernt lernen und sich Dinge zu
erarbeiten.“ Hauptsächlich Frauen nehmen an diesen Kursen teil. „Die
Kinder sind groß, was kommt dann? – Es machen auch viele, die es nachher
nicht anwenden. Ich lerne etwas über meine nächste Umgebung. Das ist
die Motivation für viele.“ Und Hausaufgaben? „So‘n bisschen. Aber lesen,
sich ein Thema erarbeiten, Referate halten – das zieht sich durch.“
DIN-EN-Norm 15565Quehl
ist qualifizierte Gästeführerin nach DIN. Voraussetzung sind 600
Unterrichtsstunden. „Man kann sich die VHS-Grundausbildung anrechnen
lassen. Berufspraxis auch, wenn man schon länger dabei ist.“ Auch ihre
240 Stunden Ausbildung in Kirchenführungen konnte die Gästeführerin
einbringen, allerdings nicht vollständig. Und den Plattdeutschkurs bei
Hein Benjes an der VHS. Das zählt in der Ausbildung zum Bereich
‚Regionalsprachen‘. Zu den Pflichtkursen gehören Kompaktseminare wie
Sprechtraining, Atemtechnik, Körpersprache und rechtliches und
politisches System der EU. „Das haben wir uns nett gemacht. Ich kann
auch trockenen Themen etwas abgewinnen.“ Sie verweist auf das
Prüfungsthema ihrer Ausbildung als Versicherungsfachfrau.
‚Schadensregulierung bei Massenkarambolagen‘. – Quehl ist auch heute
noch viel auf allen möglichen Fortbildungen unterwegs, um die Qualität
zu verbessern. „Ab und zu bin ich am Wochenende zu Hause. Im Winter mehr
als im Sommer.“
OrganisationZur Verbesserung der
Zusammenarbeit gründeten die Rotenburger Gästeführerinnen vor gut 25
Jahren ihre Arbeitsgemeinschaft mit heute 32 Mitgliedern. „Die sind
unterschiedlich aktiv. Manche führen richtig viel, andere machen zwei
Führungen im Sommer. Das kann jede so gestalten, wie sie es möchte.“ Ein
halbes Dutzend Männer sind auch dabei. „In der AG legen wir Wert
darauf, dass eine Gästeführerin die Ausbildung mit der Prüfung
abschließt. Oder dass sie eine vergleichbare Ausbildung aus einem
anderen Ort hat. Wir nehmen auch Frauen, die in einem anderen Metier
qualifiziert sind: Natur- und Landschaftsführerinnen, Waldpädagoginnen
…“ Jede hat ihren eigenen Schwerpunkt. „Dann gibt es eine Probeführung.
Die muss vom Vorstand der AG abgesegnet werden. Wir wollen es nicht zu
hoch hängen, aber wir wollen was sehen.“ Wozu eine AG? „Zusammenarbeit
ist immer besser, als wenn jede im eigenen Saft brät.“ Anfangs war es
auch eine Vermarktungshilfe. Jetzt machten das die touROW und die
Stadttouristik mit. Gästeführungen seien Werbung für eine Stadt, meint
die aktive Historikerin. „Wir sind als Verband Mitglied in der
Dachorganisation. Dadurch haben wir eine Berufshaftpflicht und andere
Vorteile.“ Und ist die Bude voll, oder passen noch Neue rein? „Neue
stören nie. Konkurrenz belebt das Geschäft. Neue Köpfe bringen immer
auch neue Ideen mit.“
BVGDDie Dachorganisation heißt
Bundesverband der Gästeführer in Deutschland e.V. (BVDG). Dort könne man
nicht als Einzelperson, sondern nur als Gruppe Mitglied werden. „Man
bekommt Informationen, auch rechtliche, Fortbildungen … Über die
Mitgliedschaft dokumentierst du, dass du Qualität lieferst. Wir haben
mit der DIN die höheren Weihen, aber den Weg der Zertifizierung gehen
nicht alle. Die ist freiwillig.“ Der Dachverband versucht, einen
Standard aufzubauen. „In Marokko, Spanien, Italien … studierst du
Gästeführung. In Deutschland kann sich jeder so schimpfen.“ Man kann
sonst wohin auf Fortbildungen fahren und sich engagieren. „Ich bin nicht
bundesweit aktiv. Irgendwann will ich auch mal meinen Mann sehen.“ Und
den hübschen Ausblick in Ortsrandlage. Woher wüsste Quehl sonst, dass in
ihrem Garten in Kirchwalsede gelegentlich das Einhorn vorbeischaut?
Torftipp:
1) Im Sommer, bis die Uhr umgestellt wird, ist die Kirchwalseder Kirche
geöffnet. Navi: Westewalseder Str. 2, 27386 Kirchwalsede,
www.kirche-bkv.de/Kirchwalsede; 2) Cohn-Scheune besichtigen:
www.cohn-scheune.de; 3) Almuth Quehl ‚Sagen und Geschichten aus dem
Landkreis Rotenburg‘, 12,90 Euro, ISBN 978-3-95494-197-1; 4)
www.bvgd.org