Juni
Der Corona-Blues
Die Music Hall Worpswede mit angeordneter Konzertpause.
Text / Fotos: Götz Paschen
„Das
Konzert in der Reihe ‚women in (e)motion‘ mit der Kyla Brox-Band am 13.
März haben wir kurzfristig abgesagt. Von jetzt auf gleich. Wir konnten
denen gerade noch rechtzeitig Bescheid sagen, dass sie nicht mehr in
England in den Flieger einsteigen. Am 7. März war unser letztes Konzerte
mit ‚Oum‘ aus Marokko“, erinnert sich Doris Fischer (70), erste
Vorsitzende des Music Hall Worpswede e. V. Sie ist zuständig für
Bandbuchungen und Presse. Laut offizieller Verfügung sind Konzerte über
1.000 Personen bis 31.8. untersagt. 550 passen hier in den Saal.
Fischer: „Die Absage für unter 1.000 Personen haben wir noch nicht. Und
es fehlen die Ansagen für die Spielarten draußen wie Open-Air-Kino ….“
Ulrich Kern (70) ist stellvertretender Vorsitzender und ebenfalls
zuständig für die Buchungen der Bands. Er weist auf Unklarheiten der
Verordnung der Staatskanzlei vom 4. Mai hin: „Es ist nirgendwo zu
entnehmen, ob wir in Stufe vier oder Stufe fünf einzuordnen sind, und
wann beide Stufen Realität werden.“ Klar ist nur eins: Der Spielbetrieb
steht, und für die nahe Zukunft sind die Konzerte und Veranstaltungen
abgesagt. Normalerweise reden die beiden über die Programmgestaltung,
Künstler und Agenturverträge. Kern: „Jeder bucht seine Themen, aber wir
sprechen die Programmgestaltung gemeinsam ab.“ Kern bucht eher die
rockigen Bands, Fischer mehr im Bereich Weltmusik. Aber nicht strikt
getrennt. Wer einen neuen Künstler holt, macht auch die Folgebuchung.
Kern: „Meist bucht der, der den engeren Kontakt zu der entsprechenden
Agentur hat.“
Leerer SaalKern: „Die ersten Tage bist
du ein bisschen konsterniert. Du weißt ja nicht, was noch auf dich
zukommt. Es ist die Unsicherheit mit der Perspektive, dass der schöne
Saal still und stumm da liegt. Das ist fremdartig.“ 2019 hatte der
Verein viel Geld in die Hand genommen für barrierefreien Zugang,
Sanitäreinrichtungen, Brandschutz, Sicherheit … „Wir haben die letzten
beiden Jahre viel investiert und selber gemacht.“ Es ging um ein
verantwortliches Konzept. „Wir wollen den Standort hier erhalten. Wir
müssen da nach vorne gehen und das Projekt zukunftssicher machen.
Konform mit der Niedersächsischen Versammlungsstättenverordnung.“ Wie
viele Toiletten pro Gast: acht Damen, fünf Herren, acht Urinale … Dass
bei einer Gästekapazität von 550 Menschen auch nur 550 Frauen oder
ausschließlich 550 Männer kommen könnten, und es bei den Toiletten
trotzdem passt. Was natürlich bei gemischtem Publikum an der Realität
völlig vorbei geht. Fischer: „Das ist schon drollig.“ 2018 und 2019
haben sie alles auf den neuesten Stand gebracht, zum Beispiel auch die
Brandmeldeanlage. Kern: „Die dürfen wir bei Bühnennebel zwar ausstellen,
müssen stattdessen aber dann mit Menschenersatz für Sicherheit
garantieren. Wir haben 40 bis 50 Leute zu Brandhelfern ausgebildet, hier
draußen mit dem Ausbilder rumgefackelt … Jetzt haben wir das
Sicherheitskonzept komplett – und dann werden wir geschlossen.“
Und jetzt?Fischer
macht aktuell ihren Garten. Kern erledigt alle verschobenen
Renovierungen zu Hause. Die erste Vorsitzende zitiert aus einem
Gespräch: „‘Musik ist wie ein Grundnahrungsmittel.‘ Das könnte ich
unterschreiben. Uns fehlt das. Wir sind hier mit Herzblut unterwegs.“
Und Kern: „Ein Livekonzert ist durch nichts adäquat zur ersetzen. Das
ist eine andere Qualität. Ich komme besser damit klar, wenn ich mir zu
Hause auch nichts anhöre. Sonst kommt die Wehmut hoch.“ Fischer: „Ich
gewöhne mich gerade an das Rentnerdasein. Das kannte ich bislang nicht.“
Kern: „Ich fühle mich jetzt auch zum ersten Mal als Rentner. Sonst
hattest du das Gefühl, du bist normal im Beruf, den ganzen Tag
beschäftigt, aber mit mehr Gestaltungsfreiheit. Wir hatten eigentlich
eine Vollzeitstelle, wenn man die Termine und Nachtstunden dazurechnet.“
Dass die ‚Arbeitszeiten‘ originell waren, liegt an den
Vertragspartnern. Die Agenturen sind Spätaufsteher und -arbeiter.
„Manche Agenturen beginnen erst nachmittags zu arbeiten.“
Künstler seinFischer:
„Eine Künstlerin hat jetzt angefangen, ihre Gitarren zu verkaufen.“ Ein
dänischer Künstler hatte die Hoffnung, dass es in Deutschland noch
weitergeht. Bei drei bis vier Monaten ohne Konzerte erleiden die
Künstler herbe Einkommenseinbußen. Nur wenige sind weltberühmt und haben
volle Konten. Fischer: „Viele wird es hart treffen, wenn es über Monate
keine Einnahmen durch Livekonzerte gibt.“ Ohne Veranstaltungen gehen
auch die GEMAeinnahmen in den Keller. Manche Künstler nehmen sich im
Wohnzimmer auf und stellen das ins Netz. Es gibt Ansätze, ein volles
Konzert zu spielen und live zu streamen (durch Computertechnik zu
übertragen, Anm. pas) und sich den Zugang zum Stream bezahlen zu lassen.
Oder: „Verschiedene Konzerte zu streamen und zu Spenden aufzurufen, und
die Spenden an die teilnehmenden Künstler zu verteilen.“ Die Musiker
sind oft nicht in den Genuss der ‚Soforthilfe‘ gekommen. Kern: „Gitarre
und Keyboard sind abbezahlt.“ Was will man da an Kosten anmelden? Wer 40
bis 60 Konzerte im Jahr für kleine Gagen von 1.500 Euro spielt, kommt
ohne Termine nicht über die Runden. Kern: „Der Preis wächst mit dem
Marktwert, der Bekanntheit und den Kosten der Produktion.“ Und 1.500
sind nicht die Untergrenze. Es gibt Künstler, die für ein paar Hundert
Euro auftreten. „Für die fällt das alles flach: Kneipen, kleinere Clubs
...“
TechnikerKeine
Musik, keine Technik. Die Techniker können jetzt auch ihren Garten
machen. Kern: „Ich kenne ein Paar, da ist er Techniker und sie im
öffentlichen Dienst. Die haben sich das wirtschaftliche Risiko paarmäßig
aufgeteilt: einer selbständig, einer angestellt. – Einem anderen
Techniker sind am Tag des Lockdown (engl. Ausgangssperre) Aufträge im
Wert von 5.000 Euro wegegebrochen. In der Veranstaltungsbranche gibt es
keinen Job. Du kannst dann immer noch sagen, ich gehe als Erntehelfer.“
Fischer weiß von Agenturen, die an einem Tag 300.000 Euro Verlust
gemacht haben. „Die hatten schon die Kosten für die Flüge et cetera in
die Hand genommen. Dann bist du plötzlich bei hohen Summen.“ Die Music
Hall-Macher sind meist Rentner, ehrenamtlich im Dienst, wohlversorgt und
außerhalb der Risikozone. Aber auf der anderen Seite fehlen Gagen und
Produktionsumsätze. Jetzt Künstler zu sein, ist wie gefesselt mit
Sylvester Stallone zu boxen. Es gibt keine Ausfallhonorare und
Stornogagen. Was wegen ‚höherer Gewalt‘ ausfällt, bleibt unvergütet. So
steht es in Standardverträgen. Und die Regierungsmaßnahmen wegen Corona
sind höhere Gewalt. Für alle, die bisher nicht wussten, wie sie
aussieht. Hier ist sie. Kern: „Wir können den Vertrag nicht einseitig
aufkündigen. Wenn aufgrund höherer Gewalt abgesagt wird, trägt jede
Partei ihre eigenen Kosten und der Vertrag wird aufgelöst oder der
Termin verlegt. Um keine Probleme zu bekommen, brauchen wir die
offizielle Untersagung, sonst ist der Tatbestand der höheren Gewalt
nicht gegeben.“
SpendenDie
Music Hall hat eine Veranstaltungsunterbrechungsversicherung. „Die hat
damit nichts zu tun. Da geht es um Sturm, Feuer, Diebstahl … Sinnvoll
wäre eine Allriskversicherung. Die ist in einer solchen Situation Gold
wert. Aber die kostet ein Schweinegeld. Das Wimbledon-Tennisturnier hat
sie, aber für uns ist das wirtschaftlich nicht machbar. Du zahlst dich
dumm und dämlich bei der Prämie.“ Die Transportkosten für Musiker,
Material … die schon eingekauft waren, werden bandseitig bezahlt. Auf
beiden Seiten fehlen die Einnahmen. Beide Seiten bleiben auf ihren
Kosten sitzen. Auf der Kostenseite der Music Hall ist auch ihr Personal.
Fischer: „Wir sind ja auch Arbeitgeber von einem tollen Team.“ Mit
dabei sind die Sekretärin für das Ticketsystem, ein Tontechnikermeister
und der Azubi im Bereich Veranstaltungstechnik. Der meinte kürzlich:
‚Ich sage euch das jetzt: Klassenkameraden haben Kurzarbeit. Ihr könnt
mich auch auf Kurzarbeit setzen – mir liegt was an dem Laden.‘ Alle
Angestellten der Music Hall sind in Kurzarbeit. Die Selbständigen für
Licht und Technik schreiben sonst Rechnungen. Die haben aktuell gar
nichts außer Existenzkampf. Die Fixkosten für den Saalbetrieb laufen
durch. Der Spendenaufruf zeigt Wirkung. In den ersten 24 Stunden nach
dem Aufruf sind 10.000 Euro gespendet worden. Kern: „Da waren wir schon
baff.“ – Und weiter: „Unsere monatlichen Fixkosten im Shutdown (engl.
Betriebspause) liegen bei 8.000 Euro. Unser Spendenziel sind 72.000 Euro
für neun Monate Pause. Dann sind wir bei Dezember 2020.“ Fischer: „Wir
haben einfach mal den worst case (engl. schlimmsten Fall) angenommen.“
Das PublikumWas
sagen die Gäste? Fischer: „Die sagen: ‚Ihr seid wichtig.‘ und ‚Haltet
durch!‘ Alle drücken uns die Daumen, dass wir das überstehen. Wir waren
erstaunt über die vielen Reaktion und aufmunternden Worte. Viele Spender
kommen aus der Region.“ Kern: „Viele äußern auch: ‚Wir wollen uns hier
in wenigen Monaten wiedersehen.‘“ Die Worpsweder Session mit ihrem
Leiter Sven Bartel an der Cajón (Holzkistensitztrommel, Anm. pas) hat
ein Video aufgenommen. Jeder spielt sein Instrument daheim ein, und das
Ganze wird zusammengeschnitten: Von den Beatles ‚Come together‘ und die
nette Hofsituation mit den Vereinsakteuren. Fischer: „Ich bin gerührt
über die Reaktion der Spender. Wir erkennen die Herzlichkeit und merken,
dass wir für das Publikum erhalten bleiben sollen. Die hohe Anzahl, 500
Einzelspender, und die Spendenmenge zeigen die Wertschätzung.“
KonzertkartenDie
beiden mussten hier in den letzten Wochen alles absagen oder umbuchen,
was sie vorher mühsam eingefädelt hatten. Der erste Monat war einfacher:
Eine Untersagung für vier bis fünf Wochen. Alle Termine aus März und
April wurden abgesagt oder verschoben. Kern: „Es ist uns gelungen, fast
alle zu verschieben auf den Herbst oder gleich auf 2021.“ Die Bitte an
die Gäste war: Nehmt die neuen Termine wahr. Gebt die Karten nicht
zurück oder spendet sie. Fischer: „Wir haben nur ein Ticket umwandeln
müssen in einen Gutschein. Das Publikum hält zu uns.“ Wer beim
Ersatztermin keine Zeit hat, hat gespendet. Kern: „Bei Künstlern und
Agenturen ist die Erkenntnis gewachsen, dass das jetzt in den nächsten
Wochen nichts mehr wird. Wir haben dann im Einvernehmen mit Agenturen
und Künstlern neue Termine gesucht.“ Das ist einfacher, als das gesamte
Programm zu stornieren und im nächsten Jahr wieder neu aufzubauen.
Seele baumeln lassenUnd
wo gehen wir jetzt hin, um zu tanzen, uns auszutoben und die Sorgen zu
vergessen? Es fehlen die Situationen, in denen wir durch lebendige
Zerstreuung Trost finden. ‚Jan Delay‘ singt dazu nasal: „Doch wenn du
denkst, es geht nicht mehr, dann kommt von irgendwo diese Mucke her. Und
sagt dir, dass alles besser wird und dass die Hoffnung als allerletztes
stirbt.“ Die Konzerte und Veranstaltungen sind abgesagt. Wo kommt jetzt
die Mucke her? Fischer: „Es fehlen der Treffpunkt, der Austausch, die
Konzerte mit vielen Einheimischen ... Die ‚Hamburg Blues Band‘ ist hier
als Konzerttermin ein Treffpunkt wie das Schützenfest.“ Kern: „Aber die
Musik ist besser.“ Es ist ein lokales Konzert für die Leute aus dem
Dorf, ein Treffpunkt draußen bei mildem Wetter. Die Gäste kommen aus
Bremen, Hamburg, Hannover, der Umgebung, aber auch von auswärts. Treue
Besucher, die sich in Worpswede im Hotel einmieten und zusätzlich zwei
bis drei Tage das Künstlerdorf genießen. Fischer: „Vor Jahren hatten wir
einen, der kam regelmäßig mit dem Fahrrad aus dem Ruhrgebiet zum
Konzert.“
AlternativenWas ginge vielleicht doch?
Fischer: „Wir haben Maskenpflicht. Mit Maske Bier zu trinken, geht
nicht.“ Kern: „Wir wüssten nicht, wie man hier live was machen kann. Ein
sicheres Hygienekonzept kann man für diese Räumlichkeiten nicht
erstellen.“ Konzerte ohne Publikum live streamen? Draußen eine Session,
um wieder Leben auf den Hof zu kriegen? Selbst Open-Air-Kino wird
schwierig. Kern: „Im Saal könnte man 100 Leute aufstellen, dass jeder
eineinhalb Meter Abstand hat.“ Keiner bewegt sich, keiner geht aufs Klo,
und es gibt nichts zu trinken – prima Party.
Und selbst?Kabarett,
Lesungen und vor allem die Konzerte sind nicht nur für das Publikum ein
Vergnügen. Auch die Veranstalter genießen dieses Flair. Fischer: „Du
hast den Tag über auch mit den Künstlern zu tun. Das sind ja
interessante Menschen.“ Der Music Hall Worpswede e. V. besteht aus zehn
Vereinsmitgliedern. Mindestens vier bis acht sind bei den
Veranstaltungen jeweils dabei. Mit Besprechungen vorher und dem Bier
danach. „Uns eint die Leidenschaft zur Musik. Wir vermissen die
gemeinsame Arbeit.“ In der Aktivenzone sind zusätzlich noch zehn jüngere
Leute rund um diesen Kern: Kasse, Einlass, Brandhelfer … Die
Gruppendynamik ist unterbrochen. „Man gerät auch mal aneinander, aber
insgesamt ist sehr große Sympathie unter den zehn Leuten.“ Kern: „Es
gibt Streit, Empathie, Verteidigung nach außen – alles, was in einer
guten Familie dazugehört.“ Die ‚Familientreffen‘ fallen aktuell leider
aus.
AusblickWas kommt nach dem 31. August? Kern: „Wir
wissen es nicht genau.“ Fischer: „Wir sind die letzten in dieser ganz
langen Reihe von Lockerungen. Es kann sein, dass wir erst 2021 hier das
nächste Konzert haben werden. – Viele Agenturen organisieren Plan B: Der
heißt 2021.“ Kern: „Das wäre nichts, was uns überraschen würde. Es
würde uns freuen, wenn es vorher geht. Der Markt ist momentan auch
ruhig. Keine Künstlerbewerbungen, keine Buchungen. Wir machen eine
Stillhaltenummer. Die Frühjahrsverschiebephase haben wir hinter uns.
Jetzt kommt die Sommerpause. Dann müssten wir den Herbst verschieben.
Aber wir sagen nicht, in diesem Jahr läuft sowieso nichts mehr.“
Torftipp: 1)
‚Come together‘ https://youtu.be/yfshhOPcd20, 2) Spenden:
www.betterplace.org Suchbegriff ‘Music Hall’ oder direct: Music Hall
Worpswede e. V., IBAN: DE29 2415 1235 0000 3266 86, Verwendungszweck:
Corona-Hilfe Music Hall plus Name und volle Adresse für die
Spendenbescheinigung. 3) www.musichall-worpswede.eu