Klingeln im Gehirn

‚Der Anruf‘ von Heinz Rudolf Kunze.

Text: Götz Paschen

Nein, er hat nicht nur ‚Dein ist mein ganzes Herz‘ gesungen. ‚Ausnahmezustand‘ heißt das Album, auf dem Heinz Rudolf Kunze sein Lied ‚Der Anruf‘ präsentiert. Er ist vermutlich einer der präzisesten deutschsprachigen Texter und Rocksänger. Kunze wehrte sich gegen die ‚Flut an ausländischem Schund‘ und forderte eine Mindestquote deutscher Rockmusik im Radio, wie sie in Frankreich mit 40 % französischer Musik bereits üblich ist. Dass er brauchbare Ansichten vertritt, merkte man auch an seiner Ablehnung des Irak-Krieges. Als kritischer Geist setzt er sich mit der Unfähigkeit von Menschen auseinander, innere Signale (das Klingen) wahrzunehmen. Sei es die Intuition, ein spontaner Gedanke … egal, was dort hinten im Gehirn klingelt. ‚Wir hören daß es klingelt ganz hinten im Gehirn doch wir gehen nicht ran wir heben nicht ab wir runzeln nur die Stirn. Wir hören daß da jemand uns dringend sprechen will wir ahnen wer es ist wir löschen das Licht und verhalten uns ganz still …‘

Was klingelt?
In Zeiten von Informationsflut ist es sinnvoll, Meldungen auszublenden. Aber doch nicht die Wichtigen. Wer sich an die Interpretation dieses deutschen Textes macht, kann dieses Klingeln in die Jahre des Nazideutschlands transportieren. Eingeschlagene Fensterscheiben, Judensterne, Deportationen … bei wem hat es da nicht ‚geklingelt‘? Wer kann sich da von Verantwortung freisprechen und von ‚alledem nichts gewusst haben‘? Nun ist es rückblickend einfach, Schuld zu zuweisen. Aber auch heute gibt es bei anderen Themen Klingeln bei Ihnen und mir, und wir gehen nicht ran. Die Themen sind andere, die Brisanz ist hoch: Weltgerechtigkeit, Weltfrieden, Klimakatastrophen … Es geht um Menschenleben!

Das Klingeln heute
Wer die Fotos an sich heran lässt, hört das Klingen. Foto 1: Ein Mann in einem Überschwemmungsgebiet steht in seiner Stadt brusthoch im Wasser und kämpft sich vorwärts. An einem Arm hält er ein Kleinkind über sich. Dabei kugelt er ihm vermutlich beinahe den Arm aus. – Hinschauen ist das eine. Auf sich wirken lassen, das andere. Das Klingeln wahrzunehmen, ist die Lösung. Und die Verbindung zur eigenen Verantwortung herzustellen. Wer nach diesem Foto noch vergnügt in Urlaub fliegen kann, ist nicht ‚ran gegangen‘.

Verbindung herstellen
Foto 2: Ein Bauer steht mitten in Afrika auf seinem Feld mitten in einem endlosen Heuschreckenschwarm. Der färbt das Foto fast vollflächig gelb. Die Ernte ist vernichtet. Soziales Netz? Fehlanzeige. Der Text neben dem Foto stellt eine Verbindung zu unserer ‚Entwicklungspolitik‘ her. Es klingelt. Wen haben Sie und ich gewählt, dass das passieren konnte? Wie konsumieren wir, bei vollem Bewusstsein von Alternativen? – Foto 3: Die eingestürzte Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch. 1.100 Tote. Und das hübsche T-Shirt für den Sommerurlaub zu diesem attraktiven Preis! Klingelt es? Gehen wir ran? – Was muss das gute Stück eigentlich kosten? Wie ‚affig‘ ist es wirklich, bei ‚Hess Natur‘ diese ‚Ökoklamotten‘ zu bestellen? Oder wo auch immer?

Die anderen
Schuld sind immer die anderen. Das fängt im Kindergarten an und hört bei der Scheidung nicht auf. Dran sind Sie und ich! Sonst keiner. Die anderen sollen sich mal selber um ihren Kram kümmern. Oder auch nicht. Das Plastik im Weltmeer und unsere gelben Säcke. Kein Zusammenhang? ‚Das gibt’s ja nicht unverpackt.‘ Wirklich nicht? – Das Klingeln ist nur dann anstrengend, wenn man ohne Verhaltensänderung nicht ran geht. Dann kommt es von allen Seiten. Dann ist die gesunde (?) Abwehr, es zu ignorieren. Einfacher ist es, schrittweise für jeden Teilbereich kluge Konsum-, Verhaltens- und Entscheidungsalternativen zu entwickeln. Kleine Schritte führen zu einer neuen Haltung. Es klingelt! Und ich sage: ‚Ich bin schon dran.‘ Wie erleichternd ist diese Antwort. Die (Entwicklungs-)Arbeit, die damit verbunden ist, ist erheblich, und befreiend. Lebenslang wegzuhören, ist anstrengender.

Torftipp: YouTube Heinz Rudolf Kunze ‚Der Anruf‘. Nur als Standbild, aber es geht ja um den Text.