China 1989

Oder: Was ist Fortschritt?

Text: Götz Paschen

Der Deutschlandfunk fragte eine chinesische Studentin, die bei uns studiert, was ihr hier fehle. ‚Man könne nicht gut bargeldlos bezahlen. Das finde sie nicht fortschrittlich.‘ Und ich frage mich: Ist das Fortschritt? Kann man in China gut bargeldlos bezahlen, weil das die Überwachung optimiert? – So verschieden bewerten Menschen Fortschritt. Wir haben demokratische Wahlen, Versammlungsfreiheit, Gewaltenteilung, Pressefreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Energiewende, Gleichstellung, Umweltgesetzgebung … Haben Sie mal darauf geachtet, wie oft das Wort ‚frei‘ eben vorkam? Und da kommt so ein blindes Huhn daher und gackert von fehlendem Fortschritt.

Potenz
Außenhandelsvolumen, Wirtschaftsmacht, Weltmacht … Was interessiert denn wirklich: Wer wieviel Elektroschrott von übermorgen exportieren kann? Oder wer in der Lage ist, mit pluralen Meinungsströmungen erfolgreich umzugehen? Warum macht Europa sich so klein? Sind wir nicht der Kontinent mit den anteilig meisten Demokratien und garantierten Menschenrechten? Nicht nur verbrieft, sondern real existent. Wäre das nicht ein Exportschlager? Menschenrechte? Und nicht Container voll Litschi – wer braucht die? Voll argentinischen Rindfleisches – wer braucht das? Voll Handys ...? Wollen wir endlich einmal Wichtiges exportieren?

Sauer
Ich werde wütend, wenn ich mir im Radio von einer Angehörigen einer Diktatur anhören muss, was Fortschritt ist. Und hätte am liebsten geantwortet: „Aber bei uns werden Demonstranten nicht erschossen. Solche Gewalt findet hier keiner prima. Bis auf die Irren, die den Wert unseres Landes/Kontinentes nicht im Kern begriffen haben. Hier wird auch nicht hau ruck welche Trasse auch immer gebaut. Dafür gibt es Planfeststellungsverfahren, und die dauern ihre Zeit. Weil eben auch jede Kröte gefragt wird, ob sie einverstanden ist, oder ob ihr dann der Teich zum Ablaichen fehlt. Zackig ist krass potent, aber wem hilft das, wenn nachher der Schaden groß ist. Weil der Zackige die Hälfte der Parameter nicht eingerechnet hat. Wem das gefällt, der kann in den Irak in den Urlaub fliegen: Dort gibt es Erdölförderregionen, die so verseucht sind, dass nicht mal mehr ansatzweise trinkbares Wasser aus der Leitung kommt.“

Heute
30 Jahre nach den Massakern an der eigenen Zivilbevölkerung sperrt China zum Jahrestag den Platz des himmlischen Friedens in Peking ab. Strenge Kontrollen, kein Zugang für Journalisten … Noch Fragen? Ja, mich freut es aufrichtig, dass in Deutschland das Militär nicht die eigenen Landsleute erschießt. Selbst dann nicht, wenn sie demonstrieren. Ich weiß auch nicht, ob ich den Mumm hätte, mich mit meinem Menschenleben und meiner körperlichen Unversehrtheit einem Panzer entgegenzustellen. Und Gott möge dafür sorgen, dass ich das nie tun muss. – Echter Wohlstand sind garantierte Rechte, die ich einfordern kann. Dazu tragen Millionen von Deutschen an verschiedensten Stellen bei. Ein Hoch auf die Demokratie! Ein Hoch auf ihre Akteure an der Basis! Ein Hoch auf die Freiheit! Und ein Hoch darauf, dass junge Frauen aus Diktaturen in unserem wichtigsten Radiosender solch einen Blödsinn von sich geben dürfen, ohne ausgelacht zu werden! Das hat Klasse. – Und: Ja, ich halte nichts von nachvollziehbaren Datenspuren. Und nichts von Aufenthaltsmarkierungen, die ich durch meinen Geldkartenkonsum den ganzen Tag hinterlassen würde. Ja, ich bin bekennender Bargeldzahler. Ja, ich will die Bakterien anderer Geldvorbesitzer bei mir tragen. Und ja, ich finde Bargeld nicht unpraktisch, sondern haptisch erregend.

Torftipp: Demokratie und Freiheit 1) verteidigen, 2) genießen, 3) exportieren.